Stell dir vor, du bist in einem Meeting, bei dem eine Kollegin den Stand eines laufenden Projekts präsentiert. Abschließend sagt sie: „Wenn es keine Fragen mehr gibt, dann können wir jetzt in die Mittagspause gehen.“ Woraufhin jemand sagt: „Ich hätte aber tatsächlich noch eine Frage …“ Upps! Das hätte man besser moderieren können. Die Person mit der Frage fühlt sich nun als "Störfaktor", und alle anderen murren, weil sie in die Pause wollen.
In solch einer Situation berufen Leute sich dann oft darauf, nicht in die Menschen hineinschauen zu können. Vielleicht hast du auch selbst schon mal so etwas gesagt wie: „Woher hätte ich das denn wissen sollen? Ich kann doch keine Gedanken lesen!“ Ja? Erwischt! Kannst du nämlich doch, zumindest ein wenig. In so einer Situation brauchst du Nachhilfe in der koreanischen Kunst des Nunchi.
Was bedeutet Nunchi?
Nun-was? Nunchi ist koreanisch und heißt wörtlich übersetzt „Augenmaß“. Es bedeutet, zu sehen, was andere nicht sehen, zu erkennen, wie andere denken und fühlen, um dadurch bessere Beziehungen aufzubauen. Nunchi ist eng verwandt mit emotionaler Intelligenz, bezieht sich allerdings immer auf den ganzen Raum statt auf einzelne Personen.
Es geht darum, die Atmosphäre eines Raumes genau wahrzunehmen, den Raum sozusagen zu lesen – und zwar möglichst schnell. „Nunchi bewahrt einen kurz gesagt vor Peinlichkeiten – wer die Atmosphäre im Raum richtig einschätzen kann, tritt in kein Fettnäpfchen“, erklärt Korea-Expertin Euny Hong. In ihrem Buch „Nunchi – Das koreanische Geheimrezept“ (Knaur Verlag, 18 Euro) schreibt sie über die grundlegenden Prinzipien des Nunchi und darüber, wie man sie einsetzt, um glücklicher zu leben.
„Koreaner sagen, dass das halbe öffentliche Leben aus Nunchi besteht – und das ist keine mystische östliche Philosophie; im Grunde ist es auch eine westliche. Viele Menschen haben jedoch wegen des hartnäckigen und sogar noch wachsenden Mythos der Eigenverantwortlichkeit vergessen, wie wichtig es ist, der Umgebung Beachtung zu schenken“, so Hong.
Öffne deine Sinne mit Nunchi

Beim Nunchi öffnest du deine Sinne, um andere Menschen intuitiv zu verstehen
Nunchi bedeutet Aufmerksamkeit für Details – Beispiele für Nunchi im Alltag gibt es überall: Du spürst, dass jetzt kein guter Zeitpunkt ist, mit der Chefin zu sprechen, oder dass ein Familienmitglied gleich eine schlechte Nachricht überbringen wird. Es geht darum, mit offenen Sinnen durch die Welt zu gehen, Gesten und Ausdrücke anderer zu beobachten und vorauszusehen.
Was ist der Unterschied zwischen Nunchi und Empathie?
Nunchi wird häufig mit Empathie verwechselt. Ein Problem der modernen westlichen Einstellung ist laut Euny Hong die Überbetonung der Empathie. „Aus irgendeinem Grund wird Empathie als wichtigste Eigenschaft angesehen, und nur mit ihr könne man andere verstehen. Es stimmt natürlich, dass sich anständige Menschen durch ihre Fähigkeit zur Empathie auszeichnen. Für sich allein genommen, wird Empathie allerdings überschätzt. Sie kann sehr eigennützig sein, und ich würde behaupten, dass sie nicht immer zur Einsicht beiträgt. Sie kreist um die Person, die sie empfindet. Ihre Gefühle.“
Während sich Empathie geradezu in den Geist des anderen stürzt, wahrt Nunchi eine mentale Distanz und beobachtet. Nunchi ist im Gegensatz zur Empathie emotional neutral.
Wie wende ich Nunchi richtig an? 8 Regeln
Um Nunchi richtig anzuwenden, kannst du dich an diesen 8 Regeln orientieren:
1. Leere deinen Geist
Oft sehen wir andere Menschen nicht so, wie sie sind, sondern so, wie wir sind. Unsere Projektionen hindern uns daran, etwas über Menschen zu lernen. Wer zu stark von sich selbst ausgeht, verschließt seine Sinne für neue Hinweise.
2. Erkenne deinen Einfluss
Wenn du einen Raum betrittst, veränderst du ihn. „Man ändert allein durch die eigene Anwesenheit die Atmosphäre und muss daher keine große Show aufführen“, erklärt Hong. Selbst als Beobachter beeinflusst du den Raum und bist Teil des sozialen Kontexts.
3. Beobachte den Raum
Bevor du etwas sagst, nimm die Stimmung im Raum wahr. Beobachte, was die anderen tun. Wenn alle ein ernstes Gesicht machen, versuche nicht, sie mit einem lockeren Scherz aufzuheitern, bevor du weißt, was los ist. Wenn alle die Arme verschränken, kann ihnen aber auch einfach kalt sein.
4. Schweigen ist Gold
Wenn du lange genug wartest, bekommst du Antworten auf die meisten Fragen, ohne ein einziges Wort zu sagen. Hier greift das Prinzip von „2 Augen, 2 Ohren, ein Mund“ – durch Beobachten und Zuhören erfährt man mehr als durch Sprechen.
5. Manieren gibt es aus Gründen
Konventionen wie etwa Tischmanieren unterscheiden sich zwar von Kultur zu Kultur, doch überall haben sie eines gemeinsam: Sie verleihen dem gemeinsamen Raum Sicherheit, sodass sich alle wohlfühlen. Sie dienen nicht dazu, jemanden zurechtzuweisen, weil er die Regeln nicht kennt.
6. Lies zwischen den Zeilen
„Menschen sagen nicht immer, was sie denken – und das dürfen sie auch.“ Deshalb achte genauso darauf, was nicht gesagt wird, wie auf das, was geäußert wird. Jemand, der zur Begrüßung nicht umarmt werden mag, wird das nie bei einer Begegnung so direkt sagen, aber an der Körpersprache kannst du es erkennen.
7. Gute Absichten reichen nicht
In den Augen vieler koreanischer Eltern ist ein unbeabsichtigter Fehler ihres Kindes schlimmer, als hätte es mit Absicht gehandelt. Denn dann hat es die Situation wahrgenommen und eine bewusste (Fehl-)Entscheidung getroffen. „Der/die meint es nur gut“ ist im Nunchi kein Freifahrtschein für unaufmerksames Handeln.
8. Sei geschickt, sei schnell
Nunchi-Meister haben „schnelles“ Nunchi. Sie können die Energie im Raum sofort erkennen, die Informationen schnell verarbeiten und ihr Verhalten direkt anpassen. In Bezug auf Nunchi bedeutet „survival of the fittest“ tatsächlich das Überleben desjenigen, der sich am passendsten verhält.
Nunchi: Die koreanische Superkraft, mit der du sofort erkennst, was andere Menschen denken und fühlen. Und das Beste ist, auch du kannst Nunchi erlernen – unsere Anwendungsregeln zeigen dir, wie du dein Umfeld zukünftig viel besser einschätzen kannst.