Von außen betrachtet sah es so aus, als hätte Tenise Hordge, 39, alles. Nachdem sie 18 Jahre lang die Karriereleiter nach oben geklettert war, besaß die Ingenieurin einen beeindruckenden Titel, ein hohes Gehalt und ein schönes Büro. Aber sie war nicht glücklich.
Nach der Frühgeburt ihrer Tochter im Jahr 2017 fühlte sie sich bei der Arbeit abgehängt. "Wen kümmert schon dieser Titel, den ich habe?" erinnert sie sich. Er hat ihr nicht geholfen, ihr Kind auszutragen. Das Geld trug nicht dazu bei, dass ihre Tochter früher aus dem Krankenhaus nach Hause kam. Dann kam das Jahr 2020. Hordge war erschöpft, in vielerlei Hinsicht. "Ich wollte nicht länger diese Person sein, die ich nicht mehr war", sagt sie.
Man könnte es eine Identitätskrise nennen, aber Psycholog:innen würden das, was Hordge durchmachte, als Sinnkrise bezeichnen.
Was ist eine Sinnkrise?
Sinn ist eine treibende Kraft in deinem Leben, die dich mit Werten und Idealen verbindet, die größer sind als du selbst, erläutert die Psychologin Chloe Carmichael, Women’s Health-Beraterin und Autorin von "Nervous Energy". Manche legen Wert darauf, sich im Beruf durchzusetzen, hervorragende Leistungen zu erbringen, "also kann der Drang, beruflich herausragend zu sein, ein Ziel sein", erklärt Carmichael. Aber Sinn und Zweck können auch andere Formen annehmen - man kann sich einem Glauben widmen, sich künstlerisch ausleben oder sich für eine soziale Sache einsetzen.
All dies mag etwas abstrakt klingen, aber die Forschung zeigt, dass ein zielgerichtetes Leben einen starken Einfluss auf unser Wohlbefinden hat. Diejenigen, die mit einem bestimmten Ziel durchs Leben gehen, sind nicht nur eher zufrieden in ihrem Job, sondern nehmen auch häufiger an regelmäßigen Gesundheitsuntersuchungen teil und leiden seltener an Angstzuständen und Depressionen. Ein ausgeprägter Sinn für Ziele wird auch mit einer höheren Lebenserwartung in Verbindung gebracht.
Es ist nichts Schlechtes, wenn du dein Ziel im Laufe deines Lebens regelmäßig bewusst überdenkst und änderst. Das hilft dir dabei, dich auf das zu konzentrieren, was für dich zu verschiedenen Zeitpunkten wichtig ist.
Der "Life Crafting"-Prozess
Bei diesem Prozess geht es darum, aktiv dein Leben zu reflektieren, indem du Übungen zum Schreiben und Nachdenken durchführst. Anschließend setzt du dir Ziele, um Änderungen vorzunehmen, damit die Art und Weise, wie du deine Zeit verbringst, mit dem übereinstimmt, was dir am wichtigsten ist, sagt Michaéla Schippers, Professorin für Verhaltens- und Leistungsmanagement an der Rotterdam School of Management, die den Begriff geprägt hat.
Beim Life Crafting sollst du einen ehrlichen Blick auf deine Leidenschaften, Fähigkeiten und sogar dein Sozialleben werfen. "Viele Menschen stellen unbewusst fest, dass sie in einem bestimmten Beruf arbeiten oder so leben, wie es ihre Eltern für sie wollten oder wie es ihrer Meinung nach von der Gesellschaft verlangt wird", betont Schippers.
In Hordges Fall brauchte es definitiv Zeit - und eine Menge Planung - um ihre nächsten Schritte zu planen. Hordge wollte neuen Müttern bei der Bewältigung der Herausforderungen helfen, mit denen sie selbst konfrontiert war, insbesondere beim Stillen. Als ihre Tochter auf der Neugeborenen-Intensivstation lag, machte die Unterstützung durch eine Stillberaterin einen großen Unterschied. Sie beschloss, dass sie genau das tun wollte, und legte genau fest, wie sie es in die Tat umsetzen konnte. Zunächst nutzte sie ihren Bonus, um die Ausgaben für ein Jahr zu decken. Sie und ihr Mann zahlten ihre Autokredite und Schulden ab. Sie fand ein Zertifizierungsprogramm in der Nähe ihrer Familie, damit sie ihre klinischen Stunden absolvieren und sich um ihre beiden Kinder kümmern konnte. Sie fand einen Anwalt und gründete eine GmbH. Hordge leitet jetzt ihr eigenes Unternehmen und hilft neu-gewordenen Müttern.
"Man kann seinem Leben einen Sinn geben, egal unter welchen Umständen", betont Schippers. "Aber das Wichtigste ist, dass man sich die Zeit nimmt, sich darauf zu konzentrieren. Das ist etwas, das man für sich selbst schafft." Du bist die Einzige, die das tun kann. Die gute Nachricht ist, dass jeder Mensch, der bereit ist, sich die Mühe zu machen, von den Vorteilen des Life Crafting profitieren kann. Lies weiter, um eine Schritt-für-Schritt-Anleitung mit Übungen von Expert:innen zu erhalten, wie du deine Zukunft so gestaltest, wie du sie dir wünschst.
1. Lerne dich selbst kennen
Der erste Schritt ist die Klärung der eigenen Werte. "Mein wichtigster Ratschlag ist, sich selbst neu kennenzulernen", sagt Hordge. "Wenn du erst einmal weißt, wer du bist, wirst du auch wissen, was dir wichtig ist. Die kulturelle Besessenheit von Status oder Leistung treibt viele dazu, die nächste Gehaltserhöhung oder einen besseren Titel anzustreben, anstatt etwas zu suchen, das ihnen wirklich etwas bedeutet." "Leistungsstarke Frauen und insbesondere farbige Frauen werden danach bewertet und beurteilt, was sie leisten, und nicht danach, wer sie sind", so Dr. Omolara Thomas Uwemedimo, Gründerin von Melanin and Medicine. "Das bringt die Menschen dazu, all diese Dinge zu tun, weil sie von anderen positiv bestärkt werden, ohne sich zu fragen: 'Ist es das, was ich wirklich will?'"
Erkenne deine Werte
Das Niederschreiben deiner Gedanken ist laut Forschung der Schlüssel. Idealerweise solltest du eine Leidenschaft finden, die mit deinen Werten übereinstimmt. Wähle also aus den beiden nachstehenden Aufforderungen eine aus, die dich anspricht, und schreibe etwas kurzes dazu, um herauszufinden, wo du stehst:
- Blicke in die Vergangenheit. Deine Erfahrungen aus der Vergangenheit prägen dich, aber sie können dir auch eine Menge über deine Ziele verraten. "Schau zurück auf die Momente in deinem Leben, die für dich von Bedeutung waren", sagt Dr. Uwemedimo. "Das kann dir helfen, herauszufinden, was dich glücklich macht, und dir zeigen, worauf du dich konzentrieren solltest.
- Blicke in die Zukunft. Denk darüber nach, welche Art von Beziehungen du in deinem Privat- und Berufsleben haben möchtest und welche Art von Karriere du anstrebst. Konzentriere dich auch auf deine derzeitigen Gewohnheiten und Fähigkeiten und fokussiere dich auf die, die du magst oder weiterentwickeln möchtest. Das ist der erste Schritt, um alte Muster zu durchbrechen und neue Routinen zu entwickeln.
2. Setze dir Ziele
Die Forschung zeigt, dass Ziele, die mit deinen Werten übereinstimmen, besser für das allgemeine Wohlbefinden sind. Wenn du dir also über deine Werte im Klaren bist, hast du schon die Hälfte des Weges geschafft. Überlege dir nun, wie du sie in die Tat umsetzen könntest. Für Hordge bedeutete das einen Karrierewechsel. Die Suche nach der eigenen Bestimmung kann aber auch bedeuten, dass man einfach mehr Raum in seinem Leben schafft, um das zu tun, was einem einen Sinn gibt. Wenn es zum Beispiel darum geht, Eltern zu sein, könnte ein Ziel darin bestehen, mehr Aufgaben zu delegieren, damit du mehr Zeit mit deiner Familie verbringen kannst.
Stelle dir die Alternative vor...
Stelle dir vor, wie dein Leben aussehen würde, wenn du nichts ändern würdest. Das motiviert dich dazu, dein Vorhaben durchzuziehen, weil du mit den Konsequenzen des Gegenteils konfrontiert wirst. Frage dich: "Wie würde meine Zukunft in 5 bis 10 Jahren aussehen, wenn sich nichts ändert?"
...dann setze Prioritäten
Schreibe einen Text, in dem du dein ideales Leben beschreibst. Wie würdest du deine Tage verbringen, wenn es keinerlei Einschränkungen gäbe? Als Schippers anfing, den Studienanfänger:innen diese Aufgabe zu stellen, konnte die Universität einen Rückgang der Abbrecherquote um 22 Prozent bei denjenigen feststellen, die diese Aufgabe gelöst hatten. Liste konkrete Ziele auf, die dir helfen, dein ideales Leben zu erreichen, und setze dann Prioritäten. Ermittle die Stolpersteine, die sich dir in den Weg stellen könnten, und schreibe auf, wie du sie umgehen könntest.
3. Öffne dich
Schließlich solltest du der Welt deine Pläne mitteilen, rät Schippers. Wenn du deine Ziele mit anderen teilst, erhöht sich die Verantwortlichkeit und die Wahrscheinlichkeit, dass du sie erreichst. Poste deine Ziele auf Instagram oder spreche sie einfach mit deinem Partner, deiner Partnerin oder Freund:innen durch.
Es ist auch wichtig, ein neues Gespräch mit sich selbst zu beginnen. Life Crafting kann dir dabei helfen, einen sogenannten "internen Kontrollmechanismus" zu kultivieren. Damit manifestierst du, dass du es selbst in der Hand hast, die Ergebnisse und Erfahrungen, die du im Leben machst, zu gestalten und zu beeinflussen.
Sobald du den Stein ins Rollen gebracht hast, nimmst du dir jeden Tag oder jede Woche ein paar Minuten Zeit, um dir das ideale Leben vorzustellen, das du am Anfang beschrieben hast. Wenn es dein Ziel ist, die Welt zu bereisen, stellst du dir vielleicht vor, wie du die Nordlichter siehst oder mit den Einheimischen in Rom plauderst. Dann stelle dir vor, wie du deinem Ich aus dem Jahr 2024 eine Nachricht schickst, um es wissen zu lassen, dass du stolz auf es bist. "Das kann dir helfen, dich mit der Person, die du sein willst, verbunden zu fühlen", erklärt Carmichael. "Auf diese Weise fühlt sich dein aufstrebendes Ich erreichbarer an."
Der Sinn des Lebens liegt in deinen Händen: Durch Life Crafting bringst du deine Wünsche und Fähigkeiten mit dem, was du täglich tust, in Einklang. Am Ende bastelst du dir so selbst ein sinnerfülltes Leben.
Quellen: