ADHS-Diagnose via TikTok? Wie Social Media Betroffenen helfen

Neurodiversität und Soziale Medien
ADHS-Diagnose via TikTok? Wie Social Media Betroffenen helfen

Veröffentlicht am 15.07.2024
ADHS-Diagnose via TikTok? Wie Social Media Betroffenen helfen
Foto: Nelen / Shutterstock.com

Zeit ihres Lebens ist Caitlin Manner umgeben von Menschen, deren Gehirne auf besondere Weise funktionieren. Ihre Eltern, ihre beiden Geschwister und eines ihrer Kinder leiden unter Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS), 2 ihrer Kinder unter Autismus.

Caitlin dachte, sie selbst wäre nicht betroffen – bis sie auf TikTok landete. Plötzlich eröffnete sich ihr eine ganz neue Perspektive auf Neurodiversität, auch auf ihre eigene. Daraus kannst auch du vielleicht etwas für dich lernen.

Von Terminproblemen über TikTok zur Diagnose

Als viel beschäftigte Mutter rackerte Manner sich ab, um Arztbesuche ihrer Kinder, Schule, Sport und Hausarbeit unter einen Hut zu kriegen. Sie platzierte Planer in Schlafzimmer, Büro und Küche, um sicherzugehen, dass ihr nichts durch die Lappen ging. Irgendwann verpasste sie trotzdem einen wichtigen Termin für die Sprachtherapie ihres ältesten Sohnes.

Bei der Krankenversicherung musste sie alle möglichen Anträge stellen, um eine Bewilligung zu erhalten, und sie wartete schon seit Wochen auf einen der begehrten Termine. Nun musste sie sich noch einmal 3 Monate gedulden. „Es war echt frustrierend, weil mir klar war, wie wichtig der Termin war, und trotzdem verpasste ich ihn“, sagt Manner. Selbst ihr aufwändiges Kalendersystem reichte nicht aus. Und dann kam die Pandemie.

Auf der Suche nach sozialen Kontakten verbrachte Manner mehr Zeit auf TikTok. Videos über ADHS tauchten auf ihrer For- You-Page auf – Empfehlung auf der Grundlage von TikToks Algorithmus. Manner fand sich oft selbst in den Geschichten anderer Menschen wieder, zum Beispiel wie diese Tausende Sachen erledigten, ohne je mit irgendeiner fertig zu werden. Auch bei diesen Leuten war die Bude am Ende des Tages das reinste Chaos, und sie hatten nichts geschafft. Manner dachte: Genauso geht es mir auch. Also ging sie zur Beratung zu einem klinischen Psychologen. Nach dem Gespräch und der Beurteilung ihrer Symptome erhielt sie selbst die Diagnose: ADHS. „Zum ersten Mal bekam ich es schwarz auf weiß und konnte mich darauf einstellen“, sagt sie.

Wie Social Media zur Selbsthilfegruppe wurde

In den letzten Jahren haben sich TikTok und andere Social-Media-Kanäle wie Instagram und Facebook zu behelfsmäßigen Netzwerken für die Förderung der mentalen Gesundheit entwickelt. Obwohl es kaum Untersuchungen gibt, wie Apps uns psychologisch beeinflussen, dient TikTok für viele Benutzerinnen bereits als Vehikel zur Selbstdiagnose.

„Das traditionelle Gesundheitssystem ist oft überfordert, wenn es um die Behandlung psychischer Erkrankungen geht“, sagt Wizdom Powell, Professorin für Psychiatrie und Direktorin des Health-Disparities-Instituts an der University of Connecticut. „Es ist nicht überraschend, dass Menschen versuchen, sich selbst zu helfen und dabei vermehrt auf Ressourcen wie Social Media zurückgreifen.“ Willkommen in der Welt der Neurodiversität! Hier erfährst du, was du tun kannst, wenn der Algorithmus dich auf die Spur gebracht hat.

TikTok und Insta reichen nicht: Immer ärztlichen Rat suchen

Bevor du eintauchst ins Thema, ein wichtiger Hinweis: So schön anschaulich Social Media sein mögen, das hier ist kein Freizeitvergnügen, sondern deine Gesundheit. Also befolge nicht gleich irgendwelche Tipps von wildfremden Menschen in irgendwelchen Netzwerken, sondern sprich zuerst mit Profis, wenn du einen Verdacht hast.

Erste Ansprechpartner bei Verdacht auf eine Neurodiversität oder psychische Erkrankungen sollte immer der Hausarzt oder die Hausärztin beziehungsweise eine Praxis für Psychiatrie sein. Außerdem gibt es Informationen auf den Seiten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und auf dem Informationsportal ADHS.

Neurodivers, neurodivergent, neurotypisch – was heißt das alles?

Suche einmal bei TikTok nach dem Begriff #neurodivers, und du landest dadurch schnell in der betreffenden Community. Leider werden auch dort einige Begriffe etwas durcheinandergeworfen. Neurodivers bedeutet schlicht, dass alle Menschen neurologisch divers, also unterschiedlich sind, das Prinzip schließt dabei auch atypische Ausprägungen ein. Wenn dein Gehirn anders funktioniert als das, was man üblicherweise als "normal" oder durchschnittlich betrachtet, sprechen Fachleute von Neurodivergenz. Eine "normale" Funktionsweise bezeichnet man als neurotypisch.

Neurodiversität berücksichtigt den Umstand, dass wir alle uns innerhalb eines breiten Spektrums an Stärken und Schwächen bewegen, basierend auf neurologischen Eigenschaften und Verhaltensweisen. Es gibt keine exakte Definition, wo Neurodivergenz beginnt. Es handelt sich eher um einen Überbegriff, der sich auf unterschiedliche Erkrankungen beziehen kann, die mit einer anderen Art zu denken verbunden sind. Dazu gehören unter anderem noch ADHS, Autismus, Zwangsstörungen, Tourette-Syndrom und Dyslexie.

Wie können Soziale Medien Betroffenen helfen?

Social Media bieten Betroffenen einen virtuellen Raum, in dem sie ihre Erfahrungen austauschen und sich gegenseitig unterstützen können. Im Jahr 2020 stieg die Anzahl der TikTok-User in der Altersgruppe von 15 bis 25 Jahren um 180 Prozent an. Weltweit war TikTok im Jahr 2022 laut dem Marktforschungsinstitut Sensor Tower die am häufigsten heruntergeladene App. Frauen machen 60 Prozent der User aus. Gleichzeitig sind psychische Erkrankungen laut Statistischem Bundesamt der häufigste Grund für eine stationäre Behandlung junger Menschen in Deutschland. Das bedeutet nicht, dass sich Benutzerinnen aufgrund einer Selbstdiagnose bei TikTok direkt in die Klinik begeben. Doch viele Menschen erlebten während der Pandemie eine Verschlechterung ihrer mentalen Gesundheit und waren anhand von Social-Media-Videos eher in der Lage, ihren Zustand einzuordnen und festzustellen, ob es sich bei ihren Schwierigkeiten möglicherweise wirklich um eine psychische Erkrankung handeln könnte oder nicht.

Viele Formen einer Neurodivergenz werden bereits in der Kindheit diagnostiziert. Aber Mädchen, Frauen und Menschen mit abweichender Geschlechtsidentität passen nicht immer in das Diagnoseschema. Ihre Erkrankungen werden häufiger missverstanden oder als Macke eingeordnet. Die klassische Vorstellung von ADHS ist zum Beispiel der hyperaktive Junge und nicht das tagträumende Mädchen. Studien legen den Verdacht nahe, dass ADHS und Autismus bei Frauen häufig nicht diagnostiziert werden, weil die Symptome schwieriger zu erkennen sind. Darüber hinaus sind Betroffene eher in der Lage, ihre Unterschiede zu kaschieren, indem sie andere Menschen nachahmen.

Was eine Diagnose (auch Positives)bedeuten kann

Wenn Betroffene nach Jahren des Grübelns endlich ein Etikett finden, das zu ihnen passt, kann sich das wie eine große Erleichterung anfühlen – auch wenn es von einer Recherche über TikTok kommt. Die eigene Persönlichkeit neu zu entdecken, kann mit unterschiedlichen Gefühlen verbunden sein. Als Ceasara Galvan TikTok erstmals benutzte, führten Informationen aus ihrer For-You-Page und Videos anderer Menschen dazu, dass Ärzte bei ihr ADHS und Autismus diagnostizierten. Seit dem Beginn einer Therapie und der Einnahme von Medikamenten geht es ihr besser.

Doch sie musste auch mit Gefühlen wie Wut und Verbitterung klarkommen. Wäre ihre Neurodivergenz schon früher erkannt worden, hätte sie möglicherweise eine bessere Zeit als junge Erwachsene gehabt und wäre erfolgreicher ins Berufsleben gestartet. Nun strebt sie Veränderungen an. „Es geht darum, wie ich mit anderen Menschen zusammenarbeite und wie ich banale Dinge erledige, etwa Wäsche waschen“, sagt sie. „Das ist nun alles so organisiert, dass es für mein Gehirn am besten funktioniert.“ Ein wöchentlicher Termin mit der Supervisorin, ein flexibler Arbeitsplatz und viele Fächer zum Organisieren helfen ihr dabei, besser klarzukommen.

Das Neurodivers-Netzwerk hat auch seine Tücken

Einerseits ist es hilfreich, über sich selbst und Neurodiversität etwas zu erfahren, andererseits kann es zu Fehldiagnosen und falschem Alarm führen, wenn Social Media als Arztersatz verwendet wird. Laut einer in der Fachzeitschrift Canadian Journal of Psychiatry veröffentlichten Studie stellen 52 Prozent aller ADHS-Videos auf TikTok irreführende Behauptungen auf. Zudem kursieren viele Videos, die ADHS übersimplifizieren, kritisiert Media Matters, eine Non-Profit-Organisation, die vor Falschinformationen im Web warnt.

Als die Journalistin und Autorin Sammi Burke vermutete, unter ADHS zu leiden, vereinbarte sie einen Termin bei einer Psychiaterin. Burke war kein klassischer Fall, aber sie wies einige Symptome auf, und deswegen bekam sie Medikamente verabreicht. Diese schienen nicht zu wirken, kosteten jedoch eine Menge Geld, also setzte Burke sie wieder ab. Später stellte sie fest, dass manche Faktoren, die ihre Konzentration bei der PC-Arbeit beeinträchtigten, eher situationsbedingt waren: Laute Kinder in der Nachbarschaft würden auch anderen Leuten Probleme bereiten. Zudem hatte sie zu viele Aufgaben gleichzeitig zu erledigen. „Ich weiß immer noch nicht genau, ob ich ADHS habe“, sagt Burke. „Ich habe nicht so sehr nach einer Diagnose gesucht, sondern mehr nach Hilfe, meine Arbeit zu bewältigen.“

Die eigene Situation ist immer als Ganzes zu betrachten

Psychische Gesundheit entsteht aus einer Mischung aus Lebenserfahrungen, Genetik und anderen Faktoren. Für Menschen, die sich nicht am äußersten Ende des mentalen Spektrums befinden, kann es schwierig sein, zwischen Problemen zu unterscheiden, die äußere oder vorübergehende Ursachen haben, wie etwa die wirtschaftliche Situation, und solchen, die persönliche, permanente Gründe haben – sprich: Neurodivergenz.

Wichtig ist zudem der Horoskop-Effekt. In der Psychologie bezeichnet man ihn auch als Barnum-Effekt. Gemeint ist das Phänomen, dass Menschen vage Aussagen zu ihrer Person so interpretieren, dass sie sie als zutreffende Beschreibung für sich selbst wahrnehmen. „Man hat das Gefühl, man ist betroffen, auch wenn die Beweisdecke eigentlich sehr dünn ist“, warnt Expertin Powell. Insbesondere wenn der Algorithmus einer App wie von Zauberhand den passenden Inhalt liefert, neigt man dazu, Videoempfehlungen als aussagekräftige Einsichten in das eigene Ich zu betrachten.

TikToker raten häufig dazu, bestimmte Online-Tests bezüglich Erkrankungen wie ADHS oder Autismus durchzuführen, aber die Tests sind oft gar nicht zu diesem Zweck bestimmt. Stattdessen sollten sie von einem Psychiater durchgeführt werden, der feine Unterschiede bei den Antworten hinterfragen kann. Ohne diese Einschätzung kann es dir zum Beispiel entgehen, dass eine Schilddrüsenfehlfunktion die Ursache deines Herzrasens ist und nicht eine Angststörung. Die Selbstdiagnose ist also nur der Ausgangspunkt für eine genauere Untersuchung beim Facharzt.

Social Media sind kein Heilmittel für ADHS und ähnliche Probleme, TikTok und Instagram sind auch keine Diagnosetools. Aber sie können dabei helfen, Besonderheiten an dir zu entdecken, für die du eine Erklärung willst, und dich letztlich dazu bringen, dir Hilfe zu suchen.