Wirkt Sport tatsächlich wie eine Therapie?

Fitness als Therapie
Sport ist gesund - aber wirkt Fitness tatsächlich auch therapeutisch?

Veröffentlicht am 22.10.2024
Auch wenn die Effekte so verlockend klingen: knallharte HIT-Workouts sind nichts für Fitness-Anfänger
Foto: Dean Drobot / Shutterstock.com

Es ist allseits bekannt: Beim Sport werden Endorphine ausgeschüttet – und die machen glücklich. Wer sich schon mal beim befreienden Morgenlauf oder in einem motivierenden Gruppenkurs ausgepowert hat, kennt diese berauschenden Glücksgefühle. Wie sehr die Menschen Sport als mentale Medizin empfinden, bestätigen auch Studien: 78 Prozent der Teilnehmer einer Umfrage des US-amerikanischen Marktforschungsunternehmens Mintel gaben an, dass sie Sportroutinen hauptsächlich nutzen würden, um ihre Seele in Einklang zu bringen. Dennoch sind sich Experten über die medizinische Bedeutung von Sport noch immer uneinig.

Oftmals ist es viel leichter, mit dem Sport als mit einer Psychotherapie zu beginnen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Hashtags wie #runningismytherapy oder #movementismymedicine auf Social-Media-Plattformen millionenfach präsent sind. Doch wenn Sport gefühlt für so viele Menschen ein solch stärkendes Wundermittel ist, wieso gilt er dann nicht längst als eigenständige Behandlungsmethode? Sportpsychologin Angel Brutus von der Mississippi State University hat eine Vermutung: Für sie könnte die Ansicht, dass Aktivität die gleiche Wirkung wie Medikation und Psychotherapie erziele, dazu führen, dass die klassische Therapie an Bedeutung verlieren könnte.

Sport fördert stärkende Hormone

Fakt ist: Beim Training erhöht sich im Körper die Menge der Schmerz reduzierenden Neurotransmitter und Endorphine sowie die Anzahl der Dopamine, welche Motivation und Stimmung beeinflussen. Auch Oxytocin zählt dazu, welches die Schmerztoleranz verstärkt und angstlösend wirkt. Der letzte Stoff Serotonin erhöht das Stimmungslevel und schafft eine innere Ausgeglichenheit. "Diese Hormone können die Psyche merklich stärken", sagt Brutus.

Besonders die langfristigen Auswirkungen sind wichtig. "Bewegung kann den neurotrophen Faktor im Gehirn erhöhen, welcher Neuronen im Gehirn produziert und somit die Emotionen steuert", sagt der Arzt und Leiter der Stress-, Trauma- und Angstforschungsklinik an der Wayne University Detroit, Dr. Arash Javanbakht. Zudem ist es erwiesen, dass eine Verbindung zwischen Entzündungen im Körper und Depressionen besteht. Auch hier wieder ein klarer Punkt für Sport als Medizin: "Sportliche Aktivität ist auch für einen entzündungshemmenden Effekt bekannt", bestätigt Dr. Javanbakht.

Wer sich bewegt, bringt auch Bewegung in mentale Probleme

Dass Bewegung bei mentalen Problemen wieder Licht ins Leben bringen kann, ist aufgrund der Forschungslage unbestritten. Erst kürzlich bezeichneten Forscher Bewegung durch die stimmungsfördernde Wirkung sogar als Schlüsselbehandlung bei mentalen Problemen. Eine im British Journal of Sports Medicine veröffentlichte Studie belegt, dass Sport bei Depressionen und Ängsten sogar als vielversprechender als Psychotherapie mit Medikation eingestuft werden kann.

Nicht zu unterschätzen sind die positiven Effekte von Joggen an der frischen Luft. Hier konnte eine Studie aus dem Journal of Affective Disorders zeigen, dass regelmäßiges Laufen in freier Natur ähnlich wirkt wie Antidepressiva. Doch nicht nur Ausdauersport kann wertvoll für die mentale Gesundheit sein. So fanden Forscher einer in Frontiers in Psychiatry veröffentlichten Studie heraus, dass 3- bis 4-mal jeweils 30 bis 60 Minuten wöchentliches Krafttraining die vorteilhafteste Trainingsform für depressive und phobische Jugendliche darstellen.

Bringt Sport auch langfristige Linderung?

Man darf nicht zu viel verlangen. Entscheidend ist, dass in diesen Untersuchungen Angst-, Depressionssymptome und psychische Belastungen im Mittelpunkt stehen. Und das Wissen, dass Sport zwar der mentalen Gesundheit guttut, aber auch keine Wunder wirken kann. "Symptome des mentalen Zustandes sind wie die Kontrollleuchten im Auto", sagt Sporttherapeutin Chris Sherman. Hin und wieder kann man durch eine improvisierte Lösung das Problem kurzzeitig aus der Welt schaffen. "Oft zeigen die Symptome jedoch, dass es tiefer liegende Bedürfnisse gibt, denen man sich widmen muss", so Sherman. Sportroutinen wirken hierbei so, als würde man die tiefer liegenden Probleme ignorieren. "Ein bisschen so, als würde man die Kontrollleuchten im Auto einfach verdecken und weiterfahren." Sport allein reicht also nicht, um ernsthafte psychische Probleme in den Griff zu bekommen.

Sport als Soforthilfe: Bewegung ist ein schneller Kraftspender

Bewegung kann ausreichend und wertvoll sein, um Alltagsstress zu vergessen oder schnell aus emotionalen Tiefs wieder herauszufinden. Jedoch ist es wichtig, den Unterschied zwischen therapeutischer Behandlungsmethode und Soforthilfe zu kennen. "Bei Letzterer ist die Wissenschaft schon weit vorangeschritten. Es handelt sich um einen fundierten Ansatz", sagt Expertin Brutus. Sport wird zu den genannten Soforthilfen gezählt. "Bewegung ist keine Behandlungsform, sondern eine Strategie zur Veränderung des Lebensstils", sagt Dr. Javanbakht. Alles in allem ist sie der Schlüssel zu einem gesunden Lebensstil und Achtsamkeit, kombiniert mit ausreichendem Schlaf, ausgewogener Ernährung und erfüllenden sozialen Kontakten.

Bewegung kann allerdings nicht einfach bewährte Ansätze von Fachleuten ersetzen. Vielmehr bietet Sport, gepaart mit Psychotherapie und Medikation, die ideale Unterstützung. "Durch die verschiedenen Gehirnaktivitäten, Ansichten und Bedürfnisse können Menschen nicht alle therapeutischen Methoden gleich befolgen. Je mehr man von ihnen kennt, desto besser kann man Krisen bewältigen und die Stimmung nachhaltig verbessern", sagt Sherman.

Wenn Sport dich also ab und zu von Sorgen und Trauer befreit, spricht überhaupt nichts dagegen, dieser Taktik treu zu bleiben. "Ängste und Depressionen verlaufen sehr unterschiedlich. Aktivität kann einen wertvollen Beitrag zur Genesung leisten", betont Sherman. Sie wirkt magisch und befreiend auf den Kopf. Dir muss aber klar sein, dass es auch andere hilfreiche Methoden gibt. Das Problem ist nur, dass du nicht zu jeder Zeit ins Sportoutfit schlüpfen und loslegen kannst. Und dann gibt es auch noch so tiefer gehende und aufwühlende Konflikte, bei denen selbst das beste Workout nicht helfen kann. Da kommt dann die bewährte Therapie ins Spiel. Hier lernt man dann andere Strategien wie Atemtechniken und Konfliktlösungen, die das Nervensystem beruhigen und den Umgang mit großen Emotionen erleichtern.

Keine zwingend notwendige Methode, aber sinnvolle Ergänzung

Die nicht nachweisbare Langzeitwirkung ist auch der Hauptgrund dafür, dass Ärzte in Bewegung an sich noch keine vollwertige Therapiemethode sehen, "da diese eine eindeutige Wirkung auf den Körper aufzeigen muss", erklärt Dr. Javanbakht. Bei Antidepressiva und Anxiolytika wissen Ärzte genau, wie diese auf Patient und Erkrankung wirken. Zudem greifen sie auf Ansätze zurück, die nachweislich vielen Betroffenen auf ihrem Weg helfen konnten.

Schlussendlich ist noch Forschung zur Ermittlung der passenden Art, Dauer und Intensität von Sport zur Besserung mentaler Krankheiten nötig. Darüber hinaus muss man den Zugang zur Bewegung aus vielen Blickwinkeln untersuchen und ermitteln, "ob Sport wirklich als alleiniger Ansatz gelten könnte", fügt Brutus hinzu und wünscht sich als ersten Schritt ein klares Statement von offizieller Seite: "Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation WHO sollten nicht erklären, dass Sport eine zwingend notwendige Methode ist, sondern vielmehr, dass er eine sinnvolle Ergänzung sein kann. Dadurch wird ersichtlich, dass jeder Mensch anders ist und auch unterschiedlich auf einzelne Therapien anspricht."

Wenn dein Training dir also immer mal über emotionale Tiefs hinweghilft, ist es absolut in Ordnung, dir dadurch Erleichterung zu verschaffen. Bei länger andauernden, tiefer gehenden Problemen bleibt selbst das härteste Workout wirkungslos. Dann musst du auf andere Methoden zurückgreifen wie Atemtechniken oder die klassische Psychotherapie.