Eigentlich passiert der Prozess der Abnabelung schon kurz nach der Geburt, mit dem Durchtrennen der Nabelschnur. Für viele Menschen ist damit aber nur ein erster winziger Schritt getan, der oft ein halbes Leben lang dauert, für manche sogar ein ganzes.
Die Lösung von den Eltern ist immer ein schmerzlicher Schritt, meist für beide Seiten. Manchmal ist er aber auch nur für eine Seite schmerzhaft, weil dem Schnitt aber zuvor jede Menge vorausging, ist er für die andere Seite um so befreiender. Wie auch immer die letztendliche Abnabelung vonstattengeht: Sie prägt dein Leben und deine Persönlichkeit.
Umso wichtiger, dass du sie gut durchdenkst und auf die richtige Weise kritisch hinterfragst. Die Antworten der Hamburger Psychologin und Familientherapeutin Sandra Konrad auf unsere Fragen werden dir dabei sicher weiterhelfen.
Frau Konrad, warum ist die Abnabelung von den Eltern so schwierig und für so viele Menschen selbst im Erwachsenenalter ein Problem?
Weil die emotionale Abnabelung von den Eltern ein lebenslanger Prozess und eine der schwierigsten Aufgaben unseres Lebens ist. Tatsächlich sind viele Erwachsene mit ihren Eltern unbewusst verstrickt. Sie geben ihnen zu viel Macht, sie kreisen mit ihrem Denken und Fühlen noch immer sehr um die Eltern und sind insgesamt zu abhängig von ihnen und ihrer Zustimmung. Viele Menschen haben zudem elterliche Botschaften und Aufträge so verinnerlicht, dass sie sich blind von ihnen leiten lassen und schlimmstenfalls dadurch sehr unglücklich werden.
Woran merkt man denn, dass man sich bisher nicht gesund von den Eltern gelöst hat?
Ärger über zu viel elterliche Einmischung, obwohl wir schon längst unser eigenes Leben führen, Enttäuschung über fehlende Unterstützung, ständige Schuldgefühle oder scheinbar unlösbare Konflikte – all das können Anzeichen dafür sein, dass wir mit den Eltern noch verstrickt sind. Glücklicherweise gibt es einen Ausweg aus frustrierenden Eltern-Kind-Beziehungen: Es ist die bewusste Ablösung.
Wie sieht eine gelungene Ablösung aus?
Wirklich erwachsen sind wir erst dann, wenn wir uns frei machen von unpassenden elterlichen Erwartungen. Und wenn wir aufhören, uns etwas von den Eltern zu wünschen, was sie uns vielleicht noch nie geben konnten. So werden wir immer unabhängiger von unseren Eltern und ihrer Zustimmung und sind in der Lage, alte Konflikte und Muster endlich aufzulösen.
Gesunde Ablösung bedeutet im Grunde, sich selbst eine gute Mutter oder ein guter Vater zu sein. Sich also so zu behandeln, wie man es sich immer von den eigenen Eltern gewünscht hätte. Wer beispielsweise sehr kritische Eltern hatte, geht oft im Erwachsenenleben ähnlich mit sich um, weil die kritischen Elternstimmen verinnerlicht sind. Das Ziel wäre es dann, positive Stimmen in sich aufzubauen, die unterstützend, liebevoll und wertschätzend sind.
Dazu gehört auch, alte Verletzungen zu erkennen, zu betrauern und zu versorgen. Dieser achtsame, liebevolle Umgang mit sich selbst ist für viele Menschen eine ganz neue Erfahrung, die heilsam und stärkend wirkt. Denn das Schöne am Erwachsensein ist, dass wir der Vergangenheit nicht mehr ausgeliefert sind, sondern die Gegenwart gestalten können.
Was kann passieren, wenn man es nicht schafft, sich von seinen Eltern zu lösen?
Unabgelöste Menschen leiden oft unter starken Schuldgefühlen den Eltern gegenüber. Oder sie sind ständig enttäuscht, dass die Eltern nicht so sind, wie sie es sich wünschen würden. Unsere kindlichen Anteile und Opfergefühle bestimmen dann unser Leben, wir fühlen uns ausgeliefert und machtlos. Das kann so weit gehen, dass Menschen regelrecht an ihrem Leben und ihrem Glück vorbeileben – sie wählen Partner, Berufe oder Lebenswege, die den Eltern gefallen, für sie selbst aber gar nicht passend sind.
Im Extremfall gelingen Menschen existenzielle Entwicklungsschritte nicht, wie beispielsweise der Auszug aus dem Elternhaus, die finanzielle Unabhängigkeit oder eine Partnerschaft einzugehen. Manche sind blockiert auf Grund verdeckter elterlicher Aufträge, die es ihnen verbieten, ein glücklicheres Leben als ihre Eltern zu führen. Aber auch nach außen hin vermeintlich erfolgreiche und im Leben stehende Menschen können innerlich noch nicht abgelöst sein und sehr darunter leiden.
Oftmals ist diese Ablösungsthematik völlig unbewusst, besonders wenn sie sich eher in Konflikten mit den Partnern oder Kindern, mit Geschwistern oder im Arbeitsumfeld zeigt. Andere Nahestehende werden dann anstelle der Eltern bekämpft, oder es werden kindliche Sehnsüchte auf sie gerichtet, die eigentlich den Eltern gelten. Mangelnde Ablösung wirkt sich also negativ auf unser gesamtes Leben und all unsere Beziehungen aus.

Die Ablösung von den Eltern bedeutet keinesfalls eine Entfremdung, sondern eine Beziehung auf Augenhöhe
Ab wann sollte man sich abnabeln? Und welche Schritte der Ablösung gibt es überhaupt?
Ablösung ist im Grunde ein lebenslanger Prozess und beginnt bei unserer Geburt mit der körperlichen Abnabelung. In der Kindheit sind wir zwar auf unsere Eltern und eine sichere Bindung zu ihnen angewiesen, gleichzeitig aber werden wir Tag für Tag autonomer und eigenständiger. Der Auszug, die finanzielle Unabhängigkeit, die erste Liebesbeziehung, das Gründen der eigenen Familie – all das sind Meilensteine unserer erwachsenen Ablösung.
Neben diesen offensichtlichen Ablösungsschritten findet idealerweise die emotionale Abnabelung von den Eltern statt, sodass wir irgendwann ein selbstbestimmtes Leben führen. Abnabelung heißt auch nicht, die Eltern weniger zu lieben, sich von ihnen zu entfremden oder gar den Kontakt mit ihnen abzubrechen – im Gegenteil, es heißt, eine reife Beziehung auf Augenhöhe mit ihnen zu führen.
Ist Ablösung ein einseitiger Prozess? Oder müssen auch die Eltern sich lösen?
Ablösung ist keine Einbahnstraße, auch für Eltern ist es wichtig, ihre Kinder altersangemessen loszulassen. Wer sein Kind liebt und ihm ein guter Bindungspartner ist, gibt ihm Sicherheit, fördert es aber gleichzeitig in seiner Selbstständigkeit. Gute Eltern geben ihren Kindern Wurzeln und Flügel, sie vertrauen ihren Kindern und stärken somit ihr Selbstvertrauen.
Um den Ablösungsprozess der Kinder zu unterstützen, ist es übrigens hilfreich, sich selbst gesund von den Eltern abgelöst zu haben. Denn je abgelöster und reifer die Eltern sind, desto eher können sie ihre Kinder in ihrer Autonomieentwicklung unterstützen.
Was für eine Rolle spielt die Partnerwahl bei der Ablösung von den Eltern?
Eine Liebesbeziehung einzugehen ist ein großer Ablösungsschritt, denn wir wählen nun selbst eine Bindungsperson aus, mit der wir unser Leben teilen und vielleicht sogar unsere eigene Familie gründen. Je unabgelöster wir sind, desto schwieriger gestaltet sich die Partnerwahl.
Um die Eltern nicht verlassen oder enttäuschen zu müssen, bleiben manche entweder Single, oder sie wählen unbewusst immer wieder Menschen, die für sie unerreichbar sind, die sie zurückweisen oder die aus verschiedensten Gründen nicht in der Lage sind, eine ernsthafte Beziehung mit ihnen einzugehen. Und selbst wenn es gelingt, eine Beziehung zu führen, vermeiden unabgelöste Menschen oft einen bedeutenden Entwicklungsschritt: die Loyalität, die bisher vor allem der Herkunftsfamilie galt, auf den Partner oder die Partnerin auszuweiten.
Diese Loyalitätsverschiebung ist sowohl für viele unabgelöste Kinder als auch für viele Eltern eine Herausforderung, mitunter gar eine Bedrohung. Besonders in symbiotischen und hohe Loyalität einfordernden Familien werden die Partner oder Partnerinnen der Kinder oft abgelehnt, wenn sie die alten Regeln und Gesetze in Frage stellen. Diese Konflikte können zur Trennung des Paares führen – oder sie werden als Chance genutzt, sich gesünder von den Eltern abzugrenzen. Denn es gibt nicht wenige Menschen, die sich unbewusst starke Partner suchen, die ihnen bei der Ablösung helfen.
Die Abnabelung von deinen Eltern bedeutet nichts Negatives, sondern ermöglicht die Chance auf ein selbstbestimmtes und glückliches Leben. Viele Erwachsene lassen sich blind von ihren Eltern leiten, was sich negativ auf ihr gesamtes Leben und all ihre Beziehungen auswirken kann. Um dies zu verhindern, findet neben den großen Meilensteinen idealerweise eine emotionale Abnabelung statt. Auch die Partnerwahl kann im besten Fall dabei helfen, sich von den Eltern zu lösen. Es handelt sich hierbei aber um keinen einseitigen Prozess, auch die Eltern müssen ihre Kinder loslassen.