Wir sind leicht zu erkennen. In unserer Handtasche haben wir immer einen Shaker, vorbereitet mit einer großzügigen Menge Eiweißpulver. Der Gefrierschrank ist voll von vorportioniertem Hühnchen und zwischendurch snacken wir hart gekochte Eier.
Was sich anhört wie die strikte Diät eines Bodybuilders, ist für uns ganz normal. Nein, wir sind weder das eine noch das andere. Uns nennt man: Proteinaholics. Der Begriff steht für eine Ernährungsweise, bei der extrem viel Eiweiß gegessen wird, während Kohlenhydrate fast vollständig gemieden werden.
Der Anfang: Woher kommt der Protein-Hype?
Es begann mit einem gewissen Dr. Atkins, strikter Kohlenhydratverweigerer, der mit dieser Einstellung eine weltweite Bewegung ins Rollen brachte. Die Liste der kohlenhydratarmen Ernährungsweisen ist mittlerweile lang. Alle wollen die guten Eigenschaften proteinreicher Lebensmittel nutzen: Denn Eiweiß ist komplex aufgebaut, weshalb der Körper mehr Energie, also mehr Kalorien, zu ihrer Verdauung und Verstoffwechselung benötigt. Hinzu kommt, dass sie aus essenziellen Aminosäuren bestehen, die für eine Vielzahl von Prozessen im Körper benötigt werden – auch für den Aufbau von Muskeln.
Letztendlich kurbelt all das den Stoffwechsel an und beschleunigt die Fettverbrennung. So hat Eiweiß nicht nur in der Fitness-Szene, sondern auch auf jedem Insta-Feed fitnessbegeisterter Foodies seinen Platz gefunden. In den Lebensmittelregalen drängen sich neben Kohlenhydrat-Klassikern wie Pasta und Brot proteinreiche Alternativen. Und die Eiweiß-Shake-Station gehört – natürlich – zur Standard-Ausstattung in jedem hochwertigen Fitness-Studio.
Der Fortschritt: Wie das Eiweiß die Fitness-Szene überflutete
Aber warum fahren ausgerechnet gesundheitsbewusste Frauen auf diesen extremen Protein-Trend ab, während die größten Eiweiß-Fans früher Bodybuilder und Kreatin-inhalierende Fitness-Junkies waren? "Diese Generation von Frauen ist mit der Botschaft aufgewachsen, dass Kohlenhydrate und Fette zu vermeiden sind, wenn es ums Abnehmen geht", erklärt die Ernährungswissenschaftlerin Jessica O’Dwyer.
Bleibt also nur noch Eiweiß übrig, das so zum Grundbaustein jeder Mahlzeit wird. O’Dwyer verweist auch auf die "Strong not skinny"-Bewegung. Statt nur dünn sein zu wollen und deshalb Stunden auf Kardio-Geräten zu verbringen, betreiben immer mehr Frauen hartes Krafttraining, um Muskeln aufzubauen, die entsprechend Eiweiß brauchen.
Der Einstieg: Wie ich anfing, Protein-Shakes zu suchten
Meine eigene Besessenheit nach dem so gehypten Makronährstoff begann mit dem Wunsch, mein ungeliebtes Bauchfett loszuwerden und Muskeln aufzubauen. Nachdem ich anfing, ins Fitness-Studio zu gehen, riet mir mein Personal Trainer, Protein-Shakes zu mir zu nehmen, um mein Ziel leichter zu erreichen.
Zuerst war es nur ein Post-Workout Shake, der meinen Heißhunger außer Gefecht setzte. Da das so gut funktionierte, schlürfte ich ihn bald schon zum Frühstück. Mein Ehrgeiz war geweckt und ich wollte wissen, wie ich Eiweiß noch effektiver nutzen konnte, um mein Training weiter voranzutreiben. Nach meiner Recherche stand fest: weg mit den Kohlenhydraten. Und zwar ohne darauf zu achten, dass es zwischen Carbs durchaus Unterschiede gibt.

Zu viele Proteine und zu wenige Kohlenhydrate können zu gesundheitlichen Problemen führen
Der Alltag: Wie ich fast nur noch Eiweiß zu mir nahm
Bei meinen Mahlzeiten gab es nur noch 2 Prinzipien: viel Eiweiß, kaum Kohlenhydrate – mit Ausnahme des ein oder anderen Haferkeks und meines geliebten Sonntagsbrötchens. Dass es so etwas wie komplexe Kohlenhydrate gibt, die als Energielieferanten wichtig und sinnvoll sind – mir doch egal.
Immerhin, das Ergebnis konnte sich sehen lassen: Innerhalb von 6 Monaten wurde aus Kleidergröße 40 eine 34 und mein laienhaftes Gewichtestemmen zum toughen Profi-Krafttraining. Doch diese gute Phase hielt nicht lange an. Ich hatte ein Plateau meiner Fitness erreicht und kam einfach nicht mehr weiter. Frust kam auf und ich wollte Antworten.
Meine Suche führte mich zu Sporternährungswissenschaftler David Arnot – im Gepäck das, was ich bis dato für einen extrem vorbildlichen Essensplan gehalten hatte. Arnots Urteil? Er hatte noch nie jemanden gesehen, der bei so einer Art von Training so wenig Kohlenhydrate zu sich nahm – die Ursache fürs Ausbleiben meiner Fitness-Erfolge. Auch meine Schwierigkeiten, mich bei der Arbeit zu fokussieren sowie meine permanente Abgeschlagenheit führte er darauf zurück.
Der Höhepunkt: Wie ich mir täglich eine Überdosis Protein verpasste
Ich wollte Klarheit, also bekam ich Klartext von ihm: Am Ende des Tages lag meine Proteinzufuhr bei mehr als 150 Gramm, was bedeutete, dass ich rund 2,5 Gramm pro Kilo Körpergewicht des "magischen" Makronährstoffs zu mir nahm.
Laut Dr. Duane Mellor vom britischen Diätverband viel zu viel: "Um die essenzielle Menge an Proteinen zu decken, um Muskeln aufzubauen, die Verdauung zu unterstützen, die Nährstoffaufnahme zu regulieren und Abfallstoffe abzutragen, empfehlen wir Erwachsenen etwa 0,75 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht täglich." Bei 5 bis 7 Trainingseinheiten, die bei mir pro Woche auf dem Programm stehen, ließe sich durchaus darüber diskutieren, diese Menge etwas zu erhöhen. Aber das, was ich an Proteinen aß, war definitiv zu viel.
Der Grenzbereich: Wie zu viele Proteine Probleme machen
Neben der allgemeinen Besorgnis, dass zu viel Proteine hohe Cholesterinwerte begünstigen und bei Vorbelastung Leberbeschwerden verschlimmern könnten, stimmen die meisten Experten zu, dass andere Nährstoffe unter dem extremen Eiweißkonsum leiden können und es sogar zu einem Mangel an Vitaminen und Co. kommen kann.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass bei Frauen, die solche enormen Mengen an Proteinen essen, hormonelle Beschwerden auftreten, einfach weil sie nicht genug Kohlenhydrate zu sich nehmen, erzählt Diätexperte Brian St. Pierre: "Ist Eiweiß die einzige Nährstoff- und Energiequelle, kann das zu Zyklusunregelmäßigkeiten, chronischer Müdigkeit und einem ungesunden Level an Östrogen und Progesteron führen." Ein weiteres Thema: chronische Dehydrierung. "Eine High-Protein- und Low-Carb-Ernährung bringt den Körper in den Zustand der Ketose, ein Stoffwechselvorgang, der zur Energiegewinnung Fett verwendet, was eine stark harntreibende Wirkung hat."
Experten argumentieren außerdem, dass es nicht nur um die Menge der Proteine geht, sondern auch um deren Herkunft. "Um die Eiweißzufuhr zu erhöhen, essen die meisten Menschen mehr Fleisch. Da das meist mit dem Konsum stark verarbeiteter Lebensmittel zusammenhängt, kann das zu einer Gewichtszunahme führen.
Der Übeltäter: Wie Protein richtig krank machen kann
Genau dieser Aspekt beschäftigt den Autor des Buches "Proteinaholic", Dr. Garth Davis. Im Gegensatz zu den Theorien, Protein sei DER Nährstoff zum Abnehmen, behauptet er, Eiweiß sei einer der bedeutendsten Faktoren hinter der internationalen Fettleibigkeits-Epidemie, stehe in Verbindung mit einer Reihe chronischer Entzündungen und sei somit eine Ursache für Diabetes, Herzerkrankungen und Krebs.
Dafür gibt es sogar stichhaltige wissenschaftliche Beweise. Eine Studie über den Zellstoffwechsel ergab, dass Personen zwischen 50 und 65 Jahren, die sich proteinreich ernährten (also bei denen mehr als 20 Prozent der Kalorien aus Proteinen stammten), in den folgenden 18 Jahren 4-mal häufiger an Krebs oder Diabetes und doppelt so häufig an einer anderen Ursache starben als Personen, die sich proteinarm ernährten.
Die Enttarnung: Warum der Eiweiß-Fetisch schadet
Interessanterweise zeigt die gleiche Studie, dass der Zusammenhang zwischen Eiweißaufnahme und Sterberate entweder nicht vorhanden war oder wesentlich geringer ausfiel, wenn die Proteine aus pflanzlichen Quellen wie Bohnen, Getreide und Nüssen stammten. Plötzlich scheint all das Geflügel – ganz zu schweigen von all den verarbeiteten Energieriegeln – doch nicht mehr ganz so gesund.
Und die dunkelste Wolke über alldem ist wohl das psychologische Phänomen der Fetischisierung, dass das große Begehren auf ein einziges Lebensmittel projiziert, während alle anderen verteufelt werden. Experten weisen zu Recht auf die Gefahr hin, ganze Lebensmittelgruppen aus Angst vor dem, was sie mit dem Körper machen könnten, komplett vom Speiseplan zu verbannen.
Die Lösung: Wie eine gute Nährstoff-Mischung Ernährung gesund macht
"Niemand leugnet, wie wichtig Proteine sind", so Arnot. "Doch in dieser ganzen Botschaft steckt ein riesiges Missverständnis. Kohlenhydrate sollten keinesfalls so schlecht dargestellt und schon gar nicht komplett gemieden werden. Ich sehe so viele Frauen, die geradezu Panik vor Kohlenhydraten haben und deshalb viel mehr Proteine essen als eigentlich notwendig. Was sie oft nicht bemerken ist, dass die Kalorien aus Eiweiß nicht gleich effizient zur Energiegewinnung wie die aus Kohlenhydraten verwendet werden können. Sie werden einfach langsamer verstoffwechselt und sind deshalb nicht so schnell verfügbar. Die Besessenheit, vor und nach dem Training haufenweise Proteine zu sich zu nehmen, bedeutet für viele Frauen deshalb, dass sie nicht alles aus dem Training herausholen können."
Um mich von diesem Protein-Hype zu befreien, ohne dass ich in einen Kalorienüberschuss komme, entwickelt Arnot mit mir einen personalisierten 10-Tages-Ernährungsplan. Was das konkret heißt? Es gibt mehr Kohlenhydrate aus hochwertigem Getreide, Hülsenfrüchten, Quinoa und Hafer – UND vor allem deutlich weniger Eiweiß. Was das für mich auch bedeutet: weniger Schwarz-Weiß-Denken. Ich habe begriffen: Kohlenhydrate sind nicht per se schlecht. Genauso wie Proteine. Es kommt, wie so oft im Leben, sowohl auf die Quantität als auch die Qualität an. So wird auch meine Energie zurückkommen, ohne dass ich Gewicht zunehme. Und genau das wünsche ich mir doch.
Proteine sind in gewissem Maße keinesfalls schlimm, genauso wenig wie Kohlenhydrate. Um Muskeln aufzubauen oder die Verdauung zu unterstützen, reichen 0,75 Gramm Protein pro Kilogramm Körpergewicht vollkommen aus. Nimmst du sehr viel mehr zu dir und vernachlässigst gleichzeitig Fette und Kohlenhydrate in deinem Ernährungsplan, sodass Eiweiß als einzige Nährstoff- und Energiequelle dient, kann dies zu gesundheitlichen Problemen führen.