Erwartungsvoll betrete ich einen nur mit Kerzenlicht erhellten Raum. Lächelnd blicke ich auf 10 weitere Yoginis, die – davon gehe ich aus – ihr Bewusstsein in den nächsten 90 Minuten ganz auf den Moment lenken wollen.
Nachdem ich bereits über 14 Jahre traditionelle Yoga-Praxis in Südostasien erfahren durfte, will ich heute unbedingt eins von diesen modernen Studios kennenlernen. Um genau zu sein, meine ich eine von diesen Locations, die mir auf Social Media regelmäßig von diversen Influencerinnen empfohlen werden.
Was in modernen Kursen passiert, hat mit Yoga wenig zu tun
Aus reiner Gewohnheit stelle ich mich zuerst auf meine Matte, schließe die Augen und erhebe meine Arme im Tadasana (du kennst die Position bestimmt als Berghaltung) Richtung Himmel. Mich treffen dabei 10 erstaunte Blicke, doch noch ist meine Welt in Ordnung. Nach den ersten Sonnengrüßen jedoch muss ich schmerzlich feststellen, dass hier etwas nicht stimmt. Die herzerwärmenden Flows werden jäh durch eine Runde „Power Abs“ unterbrochen.
Damit nicht genug, zu dieser Einheit läuft sowohl der traditionelle Yoga-Gesang „Om Namah Shivaya“ als auch Ariana Grandes „God is a Woman“. Nicht falsch verstehen: Ich mag Ariana. Allerdings nicht im direkten Zusammenhang mit einem hinduistischen Gesang, der die Göttin Shiva verehrt. Shiva ist – das sei nur so am Rande bemerkt– eine der 4 wichtigen Gottheiten des Hinduismus.
Vorsichtig schaue ich mich um. Hat denn niemand anderes hier Bauchschmerzen wegen dieser Respektlosigkeit, DAS Symbol der Hoffnung mit einem Popsong zu vermischen? Ich überlege ernsthaft, eine Pipi-Pause vorzutäuschen. Nur durch eine über lange Jahre gelernte Atemmeditation überzeuge ich meinen Geist auszuharren. Spoiler: Die anderen von mir hier gebuchten Stunden werde ich nicht besuchen.
Warum "Om" und "Namaste" mehr bedeuten als "Yeah" und "Wow"
Solange ich denken kann, ist der 1,83 Meter mal 0,61 Meter große Platz auf meiner Yogamatte ein heiliger Raum. Aber: Nur 26 Prozent aller Befragten einer weltweiten Studie des Pew Research Centers gaben an, Yoga für eine spirituelle Praktik zu halten, nicht nur für reine Fitness. Als gebürtige Inderin schmunzele ich schon des Öfteren, wenn ich mitbekomme, wie viele Menschen mit Yoga umgehen. Es fängt schon damit an, wie „Namaste“ ausgesprochen wird. Namaste ist richtig, Nama-stay richtig falsch. Oder wenn an den unmöglichsten Stellen „om“ in den Raum geworfen wird – dabei handelt es sich um einen reinigenden Gesang, der ein Gebet eröffnet und schließt. Auch das kann Yoga nämlich sein: ein Gebet.
Ich bin sicher, dass die wenigsten Teilnehmerinnen einer Yoga-Klasse wissen, welche Hintergründe die Worte wirklich transportieren, die sie da so beiläufig vor sich hinsagen. Natürlich unterstelle ich hier gar keine bösen Absichten. Es gibt viele gute Gründe, sich auf die Reise der Yoga-Praxis zu begeben. Aber ich appelliere an alle, sich in jedem Fall mit der dahinterstehenden Tradition zu befassen. Es lohnt sich nämlich, diesen Lebensweg – der auf einer der ältesten Religionen der Welt basiert – näher kennenzulernen, statt ihn als flüchtige Lifestyle-Option zu betrachten.
Natürlich muss niemand, der oder die sich nicht bis ins Detail mit Yoga auskennt, nun seine oder ihre Matte wegwerfen. Aber es gäbe schon Wege, das Bewusstsein mehr dafür zu öffnen und den Wurzeln mehr Respekt zu zollen. Zum Beispiel kann man anstatt häufig „om“ zu sagen – was wie gesagt immer mit religiöser und spiritueller Intention verbunden ist – ein „mmm“ oder einfach „ahh“ verwenden. Das kann den gleichen energetischen Effekt durch die entstehende hohe Schwingung in deinem Körper erzielen.
Wieso Yoga mehr ist als Leibesertüchtigung zu Musik
Yoga ist aus der Intention entstanden, sich aufs Wesentliche zu fokussieren. Und das ist meditieren, praktizieren, meditieren und praktizieren. In einfacher Kleidung. Das ultimative Ziel war und ist, sich an dem Punkt mit der eigenen Seele zu verbinden, an dem die Welt da draußen dir nichts anhaben kann. Noch besonderer kann ein Moment kaum sein. Dieser Ursprung passt also überhaupt nicht zu dem Leben im Überfluss, das wir gerade in der westlichen Welt an den Tag legen. Traditionelles Yoga lehrt, sich im Alltag zu disziplinieren und achtsamer zu sein.
Meine Lieblings-Yogalehrerin Rakhee Vithlani empfiehlt ihren Kolleg:innen, eine Stunde nicht bis ins letzte Detail vorzubereiten. Sondern sie besser der jeweiligen Stimmung anzupassen. So gehen Lehrende in Indien vor, die in der Regel selbst nicht mitmachen – vielmehr schauen sie auf ihre Schüler. Das macht für mich einen guten Lehrer oder eine gute Lehrerin aus. Ich rate immer, im Vorfeld auf der Studio-Website die Biografien zu lesen. Wo hat eine Lehrerin ihre Ausbildung absolviert? Praktiziert sie den traditionellen Yoga-Stil?
Vielleicht hat dich dieser Text dazu inspiriert, dich intensiver mit dem Hinduismus auseinanderzusetzen. Besuche doch mal einen Tempel, auch in Deutschland gibt es einige (eine Liste findest du auf shaivam.org). Setze dich dort auf den Boden, höre den Gebeten zu und beobachte, was das mit dir macht. Nichts? Gut. Aber vielleicht wirst du so wie ich den Drang verspüren, dich anders auf Yoga und einen achtsamen Alltag einzulassen. Wo auch immer dich dein nächster Yoga-Flow hinführt, du wirst bereit sein, dort tiefer einzutauchen. Und es wahrscheinlich befremdlich finden, wenn im Hintergrund ein Popsong läuft.
Welche Yoga-Formen sind am nächsten an der Tradition?
Im Meer der Yoga-Richtungen tun sich 3 Formen hervor, die auf besonders traditionelle Art und Weise ausgeführt werden.
Die Wurzel der Lehre: Hatha-Yoga
Aus dem Hatha-Yoga sind alle anderen Stile entstanden. Dementsprechend handelt es sich um eine sehr traditionelle Praxis, die Atemübungen (Pranayamas), Körperübungen (Asanas) und Meditation verbindet. Ziel ist, Körper und Geist zu reinigen.
Achtsamkeit im Fokus: Kundalini-Yoga
Der Schwerpunkt liegt hier auf Atem- und Konzentrationsübungen. Dazu zählen Mudras (bestimmte Fingerhaltungen) und die Fokussierung aufs dritte Auge. Bewegung rückt eher in den Hintergrund. Ziel ist, schlafende menschliche Energien zu wecken.
Von allem etwas: Sivananda-Yoga
Die Kombi aus mehreren Stilen folgt einem Muster aus Anfangsentspannung, Dehnungen, Atemübungen, Asanas und einer intensiven Endentspannung. Zudem legt man Wert auf „reines“ (vegetarisches, unverarbeitetes) Essen. Ziel ist, inneren Frieden zu finden.
Niemand möchte dir den Spaß am Yoga nehmen. Aber wenn du dich wirklich darauf einlassen willst, ist es hilfreich, etwas tiefer einzutauchen und die Hintergründe kennenzulernen, Dadurch intensivierst du auch dein persönliches Yoga-Erlebnis.