Yusra Mardini flüchtete 2015 zusammen mit ihrer älteren Schwester Sarah von Syrien nach Deutschland. Ihre Geschichte wurde unter dem Titel "Die Schwimmerinnen" verfilmt, Matthias Schweighöfer spielte eine der Hauptrollen. Alle, die den Film noch sehen wollen, sollten den nächsten Absatz überspringen – Spoiler!
Yusras Geschichte (und die des Films) in Kürze: Sie saß 2015 in einem Flüchtlingsboot, dessen Motor versagte. Zusammen mit ihrer Schwester und einem Mann zog Yusra das Boot über Stunden schwimmend an Land – und rettete so 20 Menschenleben. Die damals 17-Jährige war in ihrer Heimat Nationalschwimmerin, trainierte seit ihrem 3. Lebensjahr und hielt den syrischen Landesrekord über 400 Meter Freistil. In Berlin angekommen, wurden Yusra und ihre Schwester im Schwimmverein Wasserfreunde Spandau 04 aufgenommen und nahm 2016 für das IOC Refugee Olympic Team an den Olympischen Sommerspielen in Rio teil. Auch 2021 bei den Olympischen Spielen in Tokio war sie Teil dieses Flüchtlingsteams.
Was die mittlerweile 25-Jährige heute macht und warum Schwimmen mehr ist als ein Sport, erzählt sie hier im exklusiven Interview:
Yusra, deine Geschichte ist wirklich beeindruckend. Wie lebst du mit so einer schlimmen Erfahrung?
Natürlich war dieses Erlebnis traumatisierend. Ich werde das Ganze nie wirklich verarbeiten können, egal wie sehr ich daran arbeite. Man wird verletzt, es bleibt eine Narbe. Diese Narbe verblasst, aber sie wird immer da sein. Das ist genau das, was in meinem Herzen passiert ist: Ich habe ein Stück meines Herzens in meinem Heimatland zurücklassen müssen. Aber beeinflusst ein Stück gleich das Ganze? Nicht für mich! Mich spornt es an, besser zu werden. Es zeigt mir, wie privilegiert ich bin, sicher zu sein und ein Zuhause zu haben. Für mich geht es mehr um das Positive als um das Negative.
Wow. Starke Worte. Bist du heute dankbarer als früher?
Ich denke jetzt nicht jeden Tag, was für ein Glück ich habe, am Leben zu sein. Das ist ein Menschenrecht! Genau wie in Sicherheit leben zu können. Jedoch kommt mir eine Frage immer wieder in den Sinn: Warum musste ich mein Land verlassen? Ich habe nichts Falsches getan. Es zerreißt mir das Herz zu wissen, dass die Politik – die ich nie verstehen werde – so viele Leben zerstört.

Redakteurin Martina Steinbach traf die Schwimmerin Yusra Mardini (links) im Rahmen der ISPO Sportmesse in München
Aber anstatt dich zu beschweren, hast du eine Stiftung gegründet.
Ja, mit der Yusra Mardini Foundation möchte ich Flüchtlingen eine Stimme geben und ihnen den Zugang zum Sport ermöglichen. Als ich 2016 mit dem Refugee Team bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro ins Stadion einzog, standen alle Zuschauer auf. Das war überwältigend, diese Energie zu spüren. Mir ging es hier nicht um eine Goldmedaille. Der Antrieb, dabei zu sein, war ein anderer. Ich möchte Vorbild sein, anderen zeigen, etwas bewegen zu können. Seit meiner Jugend wusste ich, dass ich eine besondere Gabe habe und etwas Großes in der Welt tun kann – aber ich wusste nicht, was.
Hat jemand wie du so etwas wie einen Alltag?
Es kommt darauf an, wo ich gerade unterwegs bin. Ist es in meinem aktuellen Wohnort Los Angeles, gehe ich meinem Studium der Kommunikationswissenschaften nach und treibe Sport. Dazu gehören Hot Yoga, Laufen und Krafttraining. Eins davon versuche ich jeden Tag unterzubringen, als ehemalige Athletin ist das in mir drin. Man hätte mir damals ruhig mal beibringen können, einen Tag zu genießen, ohne Sport gemacht zu haben. Eigentlich sollte es okay sein, mal nicht im Gym gewesen zu sein ... (lacht).
Gehst du gar nicht mehr schwimmen?
Höchstens einmal im Monat. Ich reise viel, einmal im Monat fliege ich zurück nach Europa, da passt laufen zu gehen besser. Ich weiß, das klingt komisch für eine Schwimmerin. Mein Coach schlug mir vor, Triathletin zu werden, aber ich bin nun mal eine Schwimmerin, seitdem ich 3 Jahre alt bin und Radfahren ist nicht meins. Das habe ich versucht, aber das ist total hart.
Die meisten Triathleten mögen den Schwimmteil am wenigsten. Hast du einen Tipp?
Seid geduldig! Beim Schwimmen braucht es viel Zeit, um besser zu werden. Ihr werdet oft frustriert sein, aber gebt nicht auf!
Mit Verlaub, Schwimmen ist langweilig.
Stimmt absolut! Immer wenn ich schwimmen ging, malte ich mir aus, wie mein neuer Crush und ich wohl zusammenpassen würden, dachte daran, was meine Mutter vor 5 Jahren mal gesagt hatte oder, oder, oder ... Aber genau das liebe ich am Schwimmen: Du kannst dir über banale Sachen Gedanken machen, kommst runter und hast keine Zeit dein Handy zu checken. Ich habe beim Training auch oft lauthals gesungen – wasserfeste Kopfhörer waren mein ständiger Begleiter –, andere aus meinem Team haben unter Wasser lustige Fratzen gezogen.
Aber woher nimmst du die Motivation?
Auch wenn du einer Sache nachgehst, die du gerne machst, kommt dir die Motivation nicht jedes Mal zugeflogen. Keinem Sportprofi dieser Welt passiert das. Es geht um mehr. Wenn ich mich damals gefragt hätte, ob es mein Wunsch ist, jeden Tag in den Pool zu steigen, hätte ich das definitiv verneint. Aber warum war ich dort? Weil ich das große Ziel vor Augen hatte. Ich wollte lernen, nie aufzugeben.
Daher setzte ich mir kleine Teilziele wie 3 Kilometer am Stück zu schwimmen. Weil ich es mir selbst beweisen wollte, dass ich es schaffen kann. Manche Leute schwimmen, um zu entspannen, andere verfolgen Ziele oder setzen sich welche – das macht diesen Sport so besonders. Sobald ich im Wasser bin, muss ich mich um nichts anderes mehr kümmern. Diesen Satz habe ich oft von meinem ersten Schwimmtrainer – meinem Vater – gehört. Als ich nach unserer Flucht in Berlin ankam, fragte ich als allererstes nach einem Schwimmbad.
Ist Schwimmen für dich Meditation?
Eine Art, ja. Ich habe im Wasser geweint, war wütend, habe jede Emotion durchlebt und es hat mir sehr geholfen, meine Gefühle zu verarbeiten. Ich bin durchaus eine launische Person und wenn mir etwas nicht passt, sage ich es sofort. Allerdings bin ich auch eine sehr stolze Person. Daher kann innerlich leiden und mir nach außen hin nichts anmerken lassen. Ich heule dann im Wasser, da merkt es niemand.

Ex-Schwimmerin Yusra Mardini bezeichnet sich selbst als eine sehr stolze Person
Denkst du, jeder Mensch sollte schwimmen können?
Absolut. Und zwar so früh wie möglich, man weiß nie, was passiert. Mir hat es im wahrsten Sinne des Wortes das Leben gerettet. Nicht nur auf der Flucht mit dem Boot, sondern auch als ich in Deutschland ankam. Es war meine Art zu kommunizieren. Ich konnte die Sprache nicht sprechen, aber ich wurde Teil eines Teams, ich gehörte irgendwo hin.
Was hat sich verändert, seitdem du keine Leistungssportlerin mehr bist?
Ich esse weniger (lacht), ich bewege mich ja auch nicht mehr so viel. Im Ernst: Ich lebe sehr gesund, esse ganz wenig Junk-Food. Meistens koche ich selbst und wenn ich etwas bestelle, dann einen großen Salat mit Hühnchen. Ich liebe Açaí-Bowls und Avocado-Toast, da bin ich ganz Mädchen.
Warum lebst du so gesund?
Ganz einfach: Weil mein Körper gut aussehen soll. Wenn ich mal 40 bin, möchte ich, dass mir niemand mein Alter abnimmt. Was nicht heißen soll, dass ich Angst vorm Altern habe. Mein Ziel ist, die Leute mit einem gesunden Lebensweg zu inspirieren. Ich bin davon überzeugt, dass wir es unserem Körper schuldig sind, auf ihn zu achten. Er ist unser Tempel, kümmert man sich um ihn, fühlt man sich gut. Klar esse ich mal einen Burger, aber gesundes Essen gibt mir mehr Energie und ich fühle mich hinterher viel besser. Meinen Körper mag ich jetzt auch viel lieber als damals in der Hochleistungsphase.
Echt jetzt?
Ich weiß, das klingt verrückt. Aber als Leistungsschwimmerin tust du alles, um besser zu schwimmen. Ich habe Muskeln trainiert, über die sich andere vielleicht nicht mal Gedanken machen, besonders in den Schultern und Armen. Viele Schwimmerinnen mögen ihre Arme nicht, weil die in einem Kleid zu massig wirken.
Welche Ziele hast du dir für das Jahr 2024 gesetzt?
Ich werde bei den Olympischen Spielen in Paris dabei sein! Nicht als Athletin, aber ich möchte daran beteiligt sein, auf welchem Weg auch immer. Vielleicht als freiwillige Helferin, wer weiß, aber ich werde dort sein! Zudem arbeite ich weiter für meine Foundation, trete als Speakerin auf und da ist auch noch die Modeseite. Vielleicht laufe ich wieder auf einer Fashion Show und natürlich setze ich mein Studium fort.
Was möchtest du anderen Frauen mitgeben?
Seid selbstbewusst! Nur weil man über 30 ist, heißt das nicht, keine Fehler mehr zu machen. Die Hauptsache ist, dass man tut, was man liebt. Ihr braucht von niemandem die Erlaubnis dazu.
Die Geschichte von Yusra Mardini ist zugleich berührend und inspirierend. Und sie ist die Quintessenz des olympischen Gedankens: Dabei sein ist alles. Alles zu geben und Teil einer sportlichen Gemeinschaft zu sein ist wichtiger als jede Medaille und jede Bestzeit. In diesem Sinne: Geh einfach da raus und mach dein Ding!